Der Tag, an dem ich mir selbst begegnete

Ich wachte früh auf.
Oder besser gesagt: Ich war gar nicht richtig eingeschlafen. Die Nacht vor dem Marathon war eine einzige Gedankenspirale – privat, emotional, schwer. Zu viele offene Fragen, zu viele Zweifel über die Zukunft. Ich lag wach, suchte Halt, fand keinen.

Und dann, viel zu früh, war es Morgen. Marathontag.
Ich saß auf der Bettkante, leer und überfordert, und wusste doch: Ich werde starten. Nicht, weil ich stark bin – sondern weil ich es trotzdem tue.

Am Start in München war die Stimmung elektrisierend. Menschen lachten, Musik spielte, die Sonne brach durch. Ich stand dazwischen – und hatte schon Tränen in den Augen, noch bevor der Startschuss fiel. Ich spürte die ganze Last der letzten Tage, und gleichzeitig dieses leise Flackern in mir: Vielleicht heilt das Laufen heute etwas.

Die ersten Kilometer – Laufen gegen den Sturm im Kopf

Der Startschuss fiel. Ich lief los, automatisch, ohne Plan.


Bei Kilometer 5 zeigte die Uhr 00:22:05 – zu schnell, aber ich brauchte das Tempo, um den Kopf zum Schweigen zu bringen.


Bei Kilometer 10 (00:43:39) spürte ich langsam meinen Rhythmus. Der Körper funktionierte, auch wenn die Seele müde war. Ich lief, um nicht zu denken.

Halbmarathon – zwischen Hunger und Hoffnung

Ich hatte mir vorgenommen, zwei Gels zu nehmen – mehr nicht. Ein Fehler, wie sich später zeigen würde. Ich merkte früh, dass ich zu wenig Energie tankte, dass mein Körper leiser, aber spürbar protestierte.

Bei Kilometer 15 (01:05:23) lief alles noch stabil, aber innerlich begann ich zu kämpfen. Mein Vereinskollege hatte noch viel Spaß.


Bei 20 km (01:27:59) war klar: Das wird heute kein Spaziergang.
Am Halbmarathonpunkt, 01:33:13, fragte ich mich kurz, ob ich wirklich noch Kraft für die zweite Hälfte habe.
Doch dann kam dieser Moment, in dem sich etwas verschiebt.
Die Zweifel vom Vortag – sie waren plötzlich nicht mehr Gegner, sondern Begleiter. Ich nahm sie mit, akzeptierte sie. Und lief weiter.

Kilometer 25–35 – der Kampf wird real

Ab Kilometer 25 (01:51:50) wurde es zäh. Die Beine schwer, der Kopf leer.
Die verpasste Energiezufuhr rächte sich – ich war im Defizit, spürte die Leere in jeder Faser.
Bei Kilometer 30 (02:16:42) kam sie, die Wand. Ich musste innerlich umschalten: raus aus dem Leistungsmodus, rein in den Überlebensmodus.

Ich sagte mir: Jetzt läufst du nicht gegen die Zeit, jetzt läufst du fürs Herz.
Und es funktionierte. Nicht schnell, nicht elegant – aber echt.

Kilometer 38,5 – Schmerz und Wille

Und dann kam der Moment, den keiner will.
Bei Kilometer 38,5 – ein leichter Anstieg, müde Beine, ein Moment der Unachtsamkeit – knickte ich um.
Ein stechender Schmerz zog durchs Sprunggelenk, ich stolperte kurz, fing mich.
Ich hätte aussteigen können. Vielleicht sogar sollen. Aber ich tat es nicht.
Ich biss die Zähne zusammen, fand wieder Rhythmus, so gut es ging.
Die letzten Kilometer waren kein Laufen mehr. Es war ein innerer Dialog: „Nur noch vier. Drei. Zwei. Du schaffst das.“

Ziel – Tränen, diesmal aus Wahrheit

Bei Kilometer 40 (03:12:49) war ich jenseits von allem, was man trainieren kann. Die Muskeln brannten, die Energie war aufgebraucht, aber das Herz war offen.


Dann der Olympiapark. Das Jubeln. Diese letzte Gerade.
Ich sah die Uhr, sah das Zielband – und plötzlich waren sie wieder da: die Tränen.

Ich überquerte die Ziellinie nach 03:24:55 – meine zweitbeste Marathonzeit überhaupt.
Aber diesmal war sie mehr als nur eine Zahl. Sie war der Beweis, dass ich in einer meiner schwächsten Phasen stärker war als gedacht.

Ich blieb stehen, die Sonne im Gesicht, den Schmerz im Fuß, Tränen in den Augen – nicht aus Erschöpfung, sondern aus Erleichterung.
Weil ich es trotz allem geschafft hatte.
Weil ich da war.
Weil ich weitergemacht hatte.

Nach dem Ziel – Stille, Frieden, Erkenntnis

Ich saß später in der Sonne, eingewickelt in die silberne Wärmefolie, hörte das Rauschen der Menschen um mich herum und spürte diesen seltenen Frieden.
Kein Jubel, kein Stolz im klassischen Sinn – nur Dankbarkeit.
Für meinen Körper. Für meinen Kopf. Für diesen Tag, der sich zuerst gegen mich stellte – und mich dann zurück ins Leben geführt hat.

Ich fuhr nach Hause mit einem klaren Gedanken:
Ein Marathon misst keine Zeit.
Er misst, wie tief du bereit bist zu gehen.
Und manchmal, wenn du fast nichts mehr hast, bleibt genau das, was zählt:
Herz.

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